Und sie lebten glücklich und zufrieden bis an ihr Lebensende
„Und sie lebten glücklich und zufrieden bis an ihr Lebensende.“
Ihre weiche sanfte Stimme verstummte und langsam schaute sie zu ihm.
Er lag da, seine Augen widerstanden der Müdigkeit, man sah, dass er sehr in die Geschichte gefesselt war.
Sie lächelte und drückte ihm einen Kuss auf die Stirn.
„Oma? Warum leben eigentlich alle Prinzen bei jeder Geschichte glücklich und zufrieden?“
Sie seufzte. Ihre Haut legte sich in kleine Fältchen, die sie freundlich und gutmütig erschienen ließen.
„Das ist bei vielen Märchen so, mein Kleiner.“
Er öffnete den Mund um eine weitere Frage zu stellen, doch sie war schneller. „Komm, jetzt musst du aber schlafen. Morgen fährst du doch wieder zu deiner Mutter.“
Er nickte und schloss seine Augen. Das Märchenbuch hatte er fest umklammert. Beruhigt stand sie auf und schloss das Licht.
Die Minuten vergingen. Er hörte die Schritte seiner Großmutter, die dann im großen Flur verebbten.
Die Uhrzeiger wanderten weiter. Das Geräusch war im Gegensatz der Nacht unangenehm laut.
Endlich hörte er das leise Schnarchen der alten Frau. Er riss die Augen auf und versuchte sich an die Dunkelheit zu gewöhnen. Nach und nach konnte er Umrisse erkennen. Sein Schrank, sein Tisch.. und seine Lampe. Er knipste sie langsam auf. Das schwache Licht ließ einige Schatten auftauchen, die alles geisterhaft erschienen ließen. Er senkte langsam den Blick und schlug sein Buch auf.
Bilder von mutigen Prinzen und schüchternen Prinzessinnen tauchten auf. Er ließ seinen kleinen dicken Finger auf den Umhang des Prinzen gleiten und seine Phantasie spielte wieder mit ihm – wie immer.
Er saß auf dem Pferd. Er war der Prinz. Die Kieselsteine knirschten unter den Hufen des Pferdes und ergaben einen eleganten Rhythmus. Sein Umhang spielte mit dem Wind und ließ ihn mächtiger und größer erscheinen. Die Bäume verschwammen hinter ihm, so schnell galoppierte er durch die Nacht.
Und dann hörte er den berühmten Hilferuf der Prinzessin. Er folgte der samtenen Stimme und gelang zu ihr. Sie trug ein weißes Kleid mit vielen Rüschen. Eine Gänseblümchenkrone zierte ihr Haupt. Ihre Augen verrieten Romane. „Hilfe!“ wollte sie schreien, doch ihre Stimme gab nach. Und dann sah er ihn. Der Bösewicht seines Märchens. Gehässig stand er da und hielt sein Schwert in der Hand. „Ach, Prinz Leonar. Du brauchst nicht um sie zu kämpfen. Sie gehört mir.“ Seine goldenen Zähne blitzten im Schein des Mondes.
Wut stieg in ihm hoch. Seine Prinzenwürde war ihm jetzt zu wichtig und er zückte seinen Dolch. Schnell schritt er auf den Bösewicht zu und versuchte ihn zu töten. Tatsächlich: nach einer kurzen Kämpfpause verlor der Bösewicht sein Schwert.
Ein triumphierendes Lächeln stahl sich auf seinen Lippen, ihm Prinz Leonar.
Er wendete seinen Blick auf die strahlende Prinzessin doch ehe er sich versah, lag sein Dolch in des Gegners Hand. Und ehe er sich versieh quoll sein Blut aus den Adern und bald starb er in seinem Blutmeer.
Schnell schüttelte er den Kopf. Er hielt immer noch das Märchenbuch in der Hand. Er spürte keinen Schmerz des Dolches, nichts. Natürlich, es war ja bloß seine Phantasie.
Plötzlich spürte er einen stechenden Schmerz. Als er hinuntersah breitete sich sein Entsetzten aus. Ein Taschenmescher war tief in seinem Bauch, er war vorher nur betäubt gewesen. Mit einem Ruck schloss er das Märchenbuch. Er schloss die Augen, sein Puls verklang.
Er lebte glücklich und zufrieden in dem Herz seiner Großmutter – bis zum Ende ihrer Tage.
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